Buchauszug

Das Buch umfasst 308 Seiten. Aus 20 Jahren oder 7.306 Tagen Krankheitsgeschichte werden in dem Roman 286 Tage mit den prägnantesten Erlebnissen Robert Winterkorns herausgegriffen. Der folgende Buchauszug greift hiervon 18 Tage heraus.

Tag 1
Ein Freitag, wie jeder andere der Freitage vorher. So scheint es für Robert Winterkorn, jedenfalls bis zu seinem Feierabend. Freuen auf das Wochenende. Robert hat wieder 11 Stunden anstrengende Büroarbeit beim Ministerium hinter sich, da er derzeit bereits um 6.00 Uhr freiwillig den Dienst antritt. Krankheitsvertretung in der Beschwerdestelle und aufreibende Auseinandersetzungen mit den Kollegen, wieder mal.

»Mir ist auf einmal so schwindlig!« Wortfetzen aus dem Fernsehprogramm mischen sich mit den entsetzten Schreien Angelas, die ihn heftig rüttelt.
»Was ist mit dir, Robert? Was hast du plötzlich?«
»Ich weiß nicht, was los ist …, das hatte ich noch nie … der Kreislauf … Schmerzen … wird schon wieder gehen … Meine Devise ist, was mich nicht tötet, macht mich nur härter!«, murmelt Robert matt.
»Nichts da, ich ruf gleich den Arzt. Mit dem Herz ist nicht zu spaßen!« Angela wählt die Nummer des ärztlichen Notdienstes. Robert klagt nun über Herzrasen, zunehmende Schmerzen, erst in der Brust dann im rechten Arm und schließlich überall. Während beide ungeduldig auf den Arzt warten, verschlimmern sich die Beschwerden, es kommen Krämpfe in der Brust hinzu und der Puls rast.
Es ist bereits 22.10 Uhr und Angela ist gerade im Begriff, den Notarzt der Feuerwehr zu rufen, als endlich die diensthabende Medizinerin des ärztlichen Notdienstes eintrifft. Die korpulente Frau entschuldigt sich schwer schnaufend damit, dass sie die Hausnummer nicht gleich gefunden habe und die Beleuchtung an den Hausschildern unzureichend sei. Sie macht ein EKG, um die Herzfunktion zu kontrollieren. Robert starrt auf das Gerät. Dann legt sie die Armmanschette des Blutdruckmessgeräts an und pumpt sie auf. Robert beobachtet ängstlich das Geschehen. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Die Augenlider flackern nervös. Plötzlich bäumt er sich kurz auf und verkrampft, während die Luft langsam wieder aus der Manschette entweicht.
»Das Trousseau-Zeichen«, murmelt die nun ebenfalls stark transpirierende Ärztin und schaut sich das EKG an, bis sie mit triumphierendem Blick geradezu aufjuchzt. »Und eine QT-Verlängerung, da haben wir’s ja. Bingo! Jetzt noch den Chvostek-Test.« Robert schaut Angela fragend an. Die schüttelt nur den Kopf und beobachtet das seltsame Verhalten der Medizinerin kritisch. Die Ärztin tätschelt Robert nun die Wangen, bis seine Lippen zu zittern beginnen.
Angela schreit sie entgeistert an: »Was machen Sie da mit ihm, sehen Sie nicht, dass er Schmerzen hat, geben Sie ihm nicht eine Spritze? Ist es ein Infarkt? Sagen Sie doch was!«
»Ein Herzinfarkt? Ach woher, machen Sie sich keine Sorgen, ich gebe Ihrem Mann eine Kalziumspritze, dann geht es ihm gleich wieder besser. Hat er das öfters? Nein? Dann sollten Sie regelmäßig Ihren Kalziumspiegel und Ihre Schilddrüsenwerte kontrollieren lassen, Herr Winterkorn. Denn Sie hatten gerade einen tetanischen Anfall aufgrund eines ausgewachsenen Hypoparathyreoidismus.«

Der Freitag geht zu Ende. Er hat begonnen wie kein Freitag, ja kein Tag, mehr beginnen soll.

Tag 44
Kurz nach Mitternacht drückt Robert in Panik auf den roten Alarmknopf. Eine vermeintliche Herzattacke beschäftigt die Stationsärzte. Angesichts des anscheinend lebensbedrohenden Zustands ihres neuen Patienten schreiben die diensthabenden Ärzte ein EKG und messen den Blutdruck. Sie können nichts Auffälliges finden. Robert sagt ihnen schließlich, es tue ihm leid, aber er gebe sich mit ihrer Auskunft zufrieden, dass offenbar keine Lebensgefahr bestehe. Er hat wieder einmal eine schlaflose Nacht hinter sich und schaut auf die Uhr. Es ist 5.10 Uhr. Von der Straßenlampe fällt diffuses Licht in das Zimmer. Robert starrt auf die weiß getünchte Decke. Eine kleine Spinne beginnt gerade, sich von der Stuckdecke abzuseilen. Seit drei Tagen liegt er schon hier und es ist noch nichts passiert. Die Angstzustände lassen ihn nicht schlafen. Bei der Morgenvisite schüttet er dem Chefarzt sein Herz aus.
»Sie müssen endlich was finden, Sie müssen einfach, Doktor! Warum untersuchen Sie mich nicht endlich gründlicher? EKG ohne Befund, das war doch wohl ein Scherz, ich habe weiterhin das Gefühl, einen Herzinfarkt zu haben! Die Angst, mein Gott, diese Angst! Sie ist letzte Nacht wieder hoch gestiegen von den Zehenspitzen über den Magen bis in die Haarspitzen! Sie kam aus den Knochen gekrochen. Sie können sich das einfach nicht vorstellen! Nur wer einmal wirklich solche grausamen Angstzustände hatte, der weiß ein Stück weit, wie die Hölle sein muss! Ich fühle mich wie in das Bett gepresst. Die Schweißperlen stehen auf meiner Stirn, bis sie sich in einer Sturzflut über mein Gesicht ergießen! Es ist keine bestimmte Angst, es ist eine diffuse Angst, denn vor wem oder vor was sollte ich Angst haben?«
»Ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte. Welche wollen Sie zuerst hören?«, unterbricht der Arzt Roberts Redeschwall.
»Ja? Wie? Ich weiß nicht .., das ist mir eigentlich egal!«
»Gut, dann erst mal die gute Nachricht! Wir haben Ihren Stoffwechsel untersucht und in der Endokrinologie – also der Abteilung, die Hormone analysiert – hat man gefunden, was Ihre Angstzustände auslöst! Sie schütten Unmengen von Adrenalin aus! Jeder kennt das ja, wenn Adrenalin im Körper ausgestoßen wird! Da läuft alles auf Hochtouren.«
»Aha, das klingt plausibel. Und was ist nun die schlechte Nachricht?«
»Man kann beim derzeitigen Stand der medizinischen Forschung leider noch nichts dagegen tun.«
»Toll!«, antwortet Robert, dreht sich auf die Seite und schließt die Augen.
Kurz darauf fängt er an zu zittern und ruft nach der Schwester. Er bekommt eine Infusion mit einem Schlafmittel und schläft endlich ein.
»Hallo Robert, aufwachen. Es ist schon nach 16 Uhr! Wir wollten doch heut´ in den Tierpark spazieren gehen. Musst dich schon ein bisschen bewegen, sonst macht der Kreislauf ganz schlapp. Komm schon, die Sonne scheint so schön.« Robert schlägt die Augen auf und schaut auf Angela, die gerade zwei Flaschen Traubensaft auf seinen weißen Rolltisch stellt.
»Guten Morgen, Schatz!«, begrüßt er seine Freundin gähnend, setzt sich langsam auf und drückt ihr eine Kuss auf die Wange.
»Ich hab keinen Bock aufzustehen, bin so wahnsinnig kaputt. Geschlafen hab´ ich die Nacht, mit vielen Unterbrechungen, höchstens zwei Stunden. Wenn überhaupt. Aber vielleicht hast du ja recht, hier starre ich auch nur die Wände an.« Wie in Zeitlupe zieht sich Robert die Infusionskanüle aus dem Arm, was eigentlich Aufgabe der Schwester wäre, doch das scheint ihm egal zu sein. Das Blut rinnt langsam aus der Einstichstelle. Robert ist etwas benommen und schaut wie hypnotisiert auf das Blut, das auf dem Boden eine kleine Lache bildet.

Tag 48
Robert wacht auf. Die Ziffern seiner Armbanduhr zeigen auf 9.30 Uhr. Er muss sich erst orientieren und schließt die Augen wieder.
»Wo bin ich?«, murmelt er. »Ach ja richtig, die Maier-Klinik.« Robert gähnt. Sein Zimmernachbar schnarcht laut und Robert schlägt wieder die Augen auf. Da erkennt er seine Freundin, die ihn aus dem Halbdunkel ansieht und nun auf seinen Koffer in der Ecke zeigt.
»Guten Morgen, Schatz, ich hab deine Sachen schon gepackt, zieh dich an, gleich kommt die Ärztin mit den Entlassungspapieren, dann fahren wir heim.« Angela sitzt vor dem Bett und gibt Robert einen Kuss. Robert reibt sich die Augen.
»Heimfahren? Die müssen mich doch erst noch weitere Untersuchungen machen, ich hab doch noch gar keinen Befund!«
»Doch, Schatz! Ich hab gestern mit der Oberärztin telefoniert. Sie hat gesagt, dass sie dich heute entlassen. Organisch sei alles in Ordnung und den Befund kriegt Doc Verdi zugeschickt, hat sie mir gesagt.«
»Aber es geht mir noch nicht besser, ich hab Schmerzen, mein Kopf explodiert fast, das Kribbeln im ganzen Körper, so dass ich glaube, Millionen Ameisen laufen auf mir herum! Ich leide immer noch an Sehstörungen, sehe verschwommen und manchmal doppelt! Dann die Mattigkeit und extreme Antriebslosigkeit, so dass ich mich oft keinen Zentimeter bewegen kann! Die Taubheitsgefühle und Lähmungserscheinungen am ganzen Körper! Mir fallen immer wieder Dinge aus den Händen! Nicht zu vergessen, der ständig hohe Puls, der ja offenbar vom Adrenalin kommt, was sie ja mittlerweile zumindest gecheckt haben. Die müssen doch was finden! Die haben mich doch noch gar nicht richtig untersucht!«

Tag 258
Roger ist wieder zu Besuch. Robert erzählt, was ihm die letzten Wochen widerfahren ist.
»Während meiner jetzt schon achtmonatigen ›Karriere‹ als Seelenkrebskranker habe ich natürlich nach jedem Strohhalm gegriffen, den ich nur greifen konnte.
Doch leider ist so mancher Strohhalm wieder ziemlich schnell geknickt. Ich hab alles mitgenommen, was ging. Da ist es natürlich klar, dass man irgendwann auch auf Wunderheiler und andere Kuriositäten trifft. Meine Mutter schwor immer auf einen Wunderheiler an der Ostsee. Sie hatte schon lange mit Arthrose in den Knien zu kämpfen und bekam regelmäßig Spritzen, die aber auch nicht wirklich so richtig halfen. Irgendwie hörte sie im Urlaub im letzten Jahr von diesem Wunderheiler und ließ sich von ihm behandeln.
Vor zwei Monaten meinte sie: ›Robert lass uns doch an die Ostsee fahren, du weißt doch, ich bin dort letztes Jahr hingefahren, wegen meiner Schmerzen in den Knien. Ich ging damals kurz entschlossen hin und merkte nach der Behandlung, dass meine Schmerzen in den Knien fast weg waren. Das hält immer noch an, seit letztem Jahr.‹
So kam es, dass ich vor zwei Wochen mit meinen Eltern voller Erwartung auf die Insel Fehmarn fuhr und diesen ominösen Wunderheiler aufsuchte. Obwohl ich einen Termin bei ihm hatte und extra wegen ihm nach Fehmarn gefahren war, hat er mich zunächst immer wieder vertröstet. Da war ich schon sehr wütend und wollte wieder heimfahren! Doch am dritten Tag klappte es endlich. Meiner Mutter zuliebe hatte ich ausgeharrt. Nun stand ich ihm also gegenüber, dem Wunderheiler Janosch Dziembulski. Irgendwie hatte ich ihn mir nach den begeisterten Berichten meiner Mutter etwas anders vorgestellt. Sein rechtes Augenlid hing traurig runter, wie bei Karl Dall. Mit dem linken Auge musterte er mich von Kopf bis Fuß. Seine gedrungene Gestalt erinnerte fast an Quasimodo. Doch was wie ein Buckel wirkte, war seine unnatürlich vorgeschobene rechte Schulter. Ich erinnerte mich an die Erzählung meiner Mutter. Früher sei er mal Krabbenfischer gewesen. Irgendwann habe er entdeckt, dass ihm sein Vater die Gabe des Wunderheilens vererbt hatte. Seitdem sei er als Wunderheiler Janosch von Fehmarn bekannt. Er wohnte in einem kleinen gemütlichen Haus, das von außen etwas an das Hexenhäuschen aus dem Märchen erinnerte. An den Wänden seines Behandlungszimmers hingen zahlreiche Zeitungsausschnitte. Auf diesen Zeitungsausschnitten wurde über seine Erfolge berichtet. Wart´ mal, ich such´ kurz einen Ausschnitt raus … Hier hab ich ihn. Ich lese mal vor: ›Ärzte geben todkranken Patienten auf, Wunderheiler heilt ihn. Herbert Bolte (53) aus Plön wurde vergangene Woche mit einer akuten Blutvergiftung in das Krankenhaus in Fehmarn eingeliefert. Die Sepsis schritt bald darauf so weit fort, dass ihn die Ärzte beinahe aufgaben. Da erinnerte sich die Krankenschwester Sabrina K. an den Wunderheiler von Fehmarn und holte ihn mit Zustimmung der Ärzte an das Krankenbett. Herr Dziembulski verabreichte dem Todkranken eine Spezialbehandlung und bereits am nächsten Tag war der Patient wieder ansprechbar. Die Ärzte hielten dies für eine kurzfristige Verbesserung. Doch die anschließenden Untersuchungen ergaben, dass der Patient vollkommen genesen war.‹ Ja, das konnte keiner glauben. Seitdem wird der Wunderheiler von den Ärzten bei aussichtslosen Fällen herbeigezogen. Hier sind noch sehr viele Zeitungsartikel mit solchen Schlagzeilen.« Roger nickt anerkennend.
»Ich denke, das hilft nur, wenn man dran glaubt. Ist doch dieser Placido-Effekt, hab ich mal gehört.«
»Placebo, nicht Placido! Weißt du, ich habe gar nichts geglaubt, wollte aber auch nichts unversucht lassen. Aber ich wollte ja noch erzählen, was dann passierte. Du glaubst es nicht! Ich stellte mich also vor und wollte dem Wunderheiler die Hand geben, die er aber nicht nahm. Stattdessen grunzte er etwas, dass sich anhörte, wie ›Jim Beam Ski‹. Ich konnte sein Alter schlecht schätzen, aber er muss schon irgendwo zwischen 80 und 100 Jahre alt sein. Keiner, mit dem ich auf Fehmarn gesprochen hatte, wusste es. Er war ziemlich wortkarg und sprach nur die nötigsten Worte mit mir. Ich wollte ihm kurz von meinem Seelenkrebs und den daraus resultierenden körperlichen Symptomen erzählen, aber er meinte nur etwas barsch: ›Das muss ich gar nicht wissen, junger Mann. Jetzt leg´ dich mal auf das Sofa und zieh dich bis auf die Unterhose aus!‹ Ich sollte mich also mit nacktem Rücken auf seine alte speckige Couch legen, die bereits die Spuren von Generationen von Patienten trug. Seine Behandlungsliege schien älter zu sein als der Böhmerwald. Hier hatte er also so viele Menschen angeblich geheilt, vom Schnupfen bis zum Krebs. Ich überwand trotzdem meinen Ekel und legte mich hin. Nun sollte ich die Augen schließen, was ich auch tat, aber ein Auge hielt ich einen Spalt offen. Ich schielte auf den alten Mann und wartete gespannt, was er mit mir machen würde. Er fuhr mit seiner Hand meinen ganzen Körper entlang, ohne mich dabei zu berühren, und murmelte etwas vor sich hin. An bestimmten Stellen schien er ein kleines Kreuzzeichen zu machen, schnippte mit den Fingern, und blies auf diese Stellen. Dasselbe machte er auch meinen Rücken entlang. Die ganze Prozedur dauerte etwa zehn Minuten. Ich muss ihn irgendwie etwas komisch angeschaut haben, nachdem ich die Augen öffnete, denn er hielt plötzlich mitten in der Bewegung inne und sagte, dass er nun fertig sei. Ich konnte es nicht glauben. Kein Blitz und Donner fuhr vom Himmel, das Haus wackelte nicht und ich hatte nicht das Geringste gespürt, keine spontane Heilung, nichts. Aber vielleicht würde es ja irgendwie doch noch besser werden, später. Es wurde nicht besser. Ich brachte dem Wunderheiler leider keine Schlagzeilen ein. Meine Mutter hatte ihm eine Schachtel guter Zigarren mitgebracht, da er diese sehr gerne rauchte, und ihm Geld in seine Kasse gesteckt, die aus einer alten Zigarrenschachtel bestand. Wie viel, habe ich nicht gesehen. Er verlangte auch nichts, man gab ihm lediglich eine ›Spende‹.

Tag 302
Robert hat aufgrund seiner täglichen Qualen wenig Kraft und Energie. Trotzdem versucht er die geringen Ressourcen jeden Tag aufs Neue zu mobilisieren, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu können und sich nicht aufzugeben. Insbesondere setzt er alles daran, sich nicht unterkriegen zu lassen und seinen Therapeuten zu beweisen, dass er einen starken unbeugsamen Charakter besitzt. Aus seiner kritischen und oft ironisch geäußerten Distanz zu manchen Therapieformen zieht er auch ein Stück weit Kraft zum Überleben. Zu seinem Zimmergenossen Tom sagt Robert heute beim Frühstück, dass die Gruppentherapie ihn völlig anöde. Er sehe keinen Sinn in der verordneten Psychotherapie und so beschließe er sich bei der anschließenden Gruppentherapie mal richtig boshaft zu präsentieren, um die Oberflächlichkeit der Sitzungen zu konterkarieren. Er betrachte die neue Therapeutin mit ihrem naiven Enthusiasmus als ideales Opfer für ein kleines psychosomatisches Beutespiel. Heute sind mehrere Patienten abwesend, und so werden einige aus den täglichen Gruppen zu einer Therapiestunde neu zusammengewürfelt. Robert landet mit fünf Frauen, die er schon kennt, und einer jungen Frischlings-Therapeutin in der wöchentlichen Therapiegruppe. Er mustert seine »Korbhennen«. Die 24jährige vollbusige Lisa mit ihren schlecht sitzenden Silikonimplantaten ist wie immer völlig aufgelöst und hält ihre obligatorische, farblich zur Bluse passende, Box mit den Kleenextüchern schon auf dem Schoss parat. Gleich wird es wieder losgehen, mit dem sich abwechselnden Schwall von Ergüssen an Sprachfetzen und Tränen, murmelt Robert in seinen Bart. Die Frührentnerin Petra zuckt unbewusst mit den Mundwinkeln und schaut die Therapeutin furchtergeben an, wie das Kaninchen, das auf die Schlange starrt. Anneliese hat ihr übliches Pokerface aufgesetzt, das selten hinter der überdimensionierten getönten Brille zu zerbröckeln droht, zumindest nicht in der Therapiestunde. Rita mit dem Puppengesicht reibt sich verlegen die Nase. Wenn sie spricht, hält sie immer die Hand vor dem Mund. So sieht man ihre Zahnspange nicht. Lea, die 27jährige BWL-Studentin, die sich trotz ihres immer noch vorhandenen Babyspecks in ein kurzes Leopardenkleidchen gezwängt hat, ist Kettenraucherin. Ihre Sucht nach Nikotin versucht sie mit Nägelkauen zu kompensieren. Die Finger hat sie alle schon durch. Seit neuestem trägt sie fliederfarbene Handschuhe. Trotz ihrer Pölsterchen scheint sie ungemein gelenkig zu sein. Damit keiner ihre mittlerweile ebenso abgebissenen Zehennägel sieht, versteckt sie sie in pinken Wollsöckchen, die das I-Tüpfelchen zu dem schrillen Outfit abgeben. Am Anfang müssen sich die Patienten immer ein Thema aussuchen, wenn keines automatisch zustande kommt.
Robert dreht sich zu der noch unerfahrenen Therapeutin und antwortet auf ihre Frage, was er denn als heutiges Thema vorschlagen würde, mit aufgesetzt irrem Lächeln: »Wie wäre es mit dem Liebesleben der Pflastersteine?«
Anneliese meint ungerührt, dass er doch mal seine Wut richtig raus lassen solle, da sie irgendwelche versteckten Aggressionen an ihm spüre. Das finden die anderen Therapiemitglieder auch, sie nicken zustimmend.
Die Therapeutin schnappt wie ein Terrier nach dieser zugeworfenen Wurst und ruft enthusiastisch:    »Danke, danke, das ist sehr gut, ausgezeichnet. Ich freue mich, in einer so aktiven Gruppe gelandet zu sein. Also Herr Winterkorn, nun legen Sie mal los.«
»Was soll das jetzt? Ich spüre keine Aggressionen in mir, was soll dieser Mist? Habt ihr denn keine eigenen Probleme?«, entgegnet Robert unwirsch. Die Therapeutin schaut sich in der Runde um.
»Ja, Herr Winterkorn, Sie sehen schon, Ihre Bedenken finden in unserer Gruppe heute keine Zustimmung. Machen Sie doch mal! Nur raus damit!«
»Ok, gut«, flüstert er, »wenn ihr wollt, dann spiele ich euer Spielchen eben mit, aber zieht euch warm an.«
»Was haben Sie gesagt, Herr Winterkorn?« Robert antwortet nicht sondern lässt seinen Aggressionen – wie ihm vermeintlich geheißen – nun freien Lauf, legt los und spricht als erstes Lisa an.
»Was mit dir los ist, liebe Lisa, hab ich schon lange durchschaut. Du hältst dich schon wieder an deiner Kleenexbox fest und gleich wirst du deine Nase reinstecken und deinen ganzen Psychorotz absondern. Statt dass du dich endlich endgültig von deinem Macho-Freund trennst. Dein Leben ist doch nur eine Farce, meine Liebe!« Die Wirkung seiner Worte lässt nicht lange auf sich warten. Nachdem er mit Lisa solcherart »abgerechnet« hat, presst diese sich die Hand vor den Mund, lässt die Kleenexbox fallen und rennt zur Tür hinaus. Nachdem sie die Tür hinter sich zugeschlagen hat, wird die Schockstarre der Gruppe beendet vom Geräusch des würgenden Übergebens ihres Mageninhalts auf den Flur. Robert zuckt mit den Schultern und wendet sich nun scheinbar ungerührt Lea zu, die dabei zusammenzuckt und sich heftig aus ihrem Schockzustand schüttelt.
»Ja liebe Lea, kein Schwanz ist so hart wie das Leben. Wenn du schon meinst, deine hübschen Nägel abfressen zu müssen, dann steh wenigstens dazu und versteck sie nicht, das weiß doch eh jeder. Und hör bitte endlich auf, mich ständig und bei jeder Gelegenheit anzumachen. Nichts gegen dich, aber ich steh halt leider nicht auf klammernde Presswürste in Leopardenfummeln. Sorry, aber das musste jetzt endlich mal krass deutlich gemacht werden, weil du es sonst offenbar gar nicht kapierst, Mädel! Ich will nicht, dass du dich dauernd an mich dran hängst, klar?« Lea reißt erschrocken von dieser Bloßstellung die Augen auf und verlässt, von Weinkrämpfen geschüttelt, strumpfsockend den Raum. Einem spitzen Schrei folgt unmittelbar ein dumpfer Knall. In den entsetzten Gesichtern der Gruppenteilnehmerinnen spiegelt sich die Vorstellung wider, dass Lea offensichtlich gerade auf dem Mageninhalt ihrer Busenfreundin ausgeglitten ist. Die Therapeutin schüttelt unentwegt den Kopf und macht sich Notizen. Mitten in das betretene Schweigen mischt sich ein heftiges Nach-Luft-Ringen und die Übriggebliebenen wenden ihre Blicke Rita zu, die nun ihre Augen verdreht und bleich in sich zusammensinkt, wobei sie sogar die schützende Hand von ihrem Mund wegnimmt. Robert ist gerade im Begriff, sie sich als Nächstes vorzunehmen.
Gerade, als er mit den Worten ansetzt: »Nun zu dir, liebe Rita«, fällt sie vornüber, ihm genau vor die Füße.
»Aber Rita, du musst mir ja nicht gleich zu Füßen liegen!«, ruft er nun doch sichtlich erschrocken. Nun greift die Therapeutin ein.
»Herr Winterkorn, also das hätte ich jetzt nicht .., das hätte nun wirklich nicht sein müssen.« Hilflos schaut sie zwischen der immer noch am Boden liegenden Rita und Robert hin und her. Statt Anstalten zu machen, der Ohnmächtigen aufzuhelfen, fährt sie mit ihren Notizen fort und murmelt: »Das muss ich heut Abend gleich in der Supervision ansprechen, meiner Balintgruppe. Also so was hab ich ja in meiner ganzen Laufbahn noch nicht …«
»Ja was denn nun, es war doch Ihre Idee, oder etwa nicht?«, unterbricht sie Robert. Er beobachtet, wie Anneliese sich bückt, um der nun wieder zu sich kommenden Rita aufzuhelfen. Robert gibt sich etwas betroffen.
»Okay, ich bin vielleicht etwas zu weit gegangen, aber Sie wollten doch Aggressionen sehen, oder nicht?« Die Therapeutin sagt nichts mehr. Eine Stunde später erzählt er Anneliese von den Einzelgestaltungstherapien. In einer der Sitzungen habe ihm die Therapeutin neulich die freie Wahl gelassen, was er in dieser Stunde machen will.
»Stell dir vor, Anneliese, in einer der Zimmerecken waren auf dem Boden einige Kissen aufgebaut. Ich hab mir eine kuschelige Ecke eingerichtet und gefragt, ob ich noch eine Decke haben kann. Die Therapeutin gab mir eine Decke aus dem Schrank. Ich hab mich bedankt, die Decke genommen, mich in das kuschelige Eck gelegt und bis über den Kopf zugedeckt. So verbrachte ich diese Stunde, bis sie vorbei war. Die hat mich auch seitdem nie wieder angesprochen.«
»Find ich cool! Mach ich auch das nächste Mal!«, stimmt ihm Anneliese zu. »Und das eben fand ich auch super cool. Endlich werden diese Kröten mal aufgerüttelt. Wenn du hier Arzt wärst, wären all diese Zicken nach drei Tagen austherapiert.« Robert nickt zustimmend.
»Weißt du, eigentlich bin ich ja nicht so, aber ich verliere meine Identität in dieser Eintönigkeit und die Zeit vergeht, ohne dass sich an meinem Zustand etwas ändert. Etwas muss sich doch tun!«

Tag 375
Nach zwölf Tagen Therapieurlaub nimmt Robert seit heute wieder am Gruppengespräch teil. Er berichtet dem wieder genesenen Doktor Langer, dass er sich wieder etwas beruhigen konnte. Schließlich sichert er dem Therapeuten zu, wieder regelmäßig zu kommen. Er erzählt niemandem, dass er heute 28 Jahre alt geworden ist. Ihm ist nicht zum Feiern zumute.
Zu seinem Zimmergenossen Tom sagt er: »Ich denke ernsthaft darüber nach, wie ich die Osterfeiertage überstehen soll. Ich habe zwar keine konkreten Suizidgedanken, aber es geht schon ein bisschen in diese Richtung, das macht mir doch irgendwie Angst. Insbesondere macht mir Angst, mit meiner Krankheit alleine zu bleiben. Weißt du, ich hab ja zweieinhalb Jahre in einer Beziehung gelebt und wenn diese endet, geht das nicht spurlos an einem vorüber. Die Beziehung hab ich nur beendet, weil mir die Therapeuten das eingeredet haben. Das kann sich ein Gesunder nicht vorstellen, aber in dem Zustand macht man alles, was einem die Therapeuten vorschlagen und von dem man sich eine Besserung erhofft. Doch dass ich mit meiner Ex-Freundin so schroff Schluss gemacht habe, tut mir schon etwas leid. Sie ist dann auch gleich mit Sack und Pack verschwunden, hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.«
»Hast du Doc Langer heut davon erzählt?«
»Nein, das will ich auf keinen Fall, das bleibt unter uns, ja?«
»Alles Roger, Robert, das wird schon wieder auf die Reihe kommen. Ist auch das trübsinnige Wetter gerade und natürlich die Gesamtsituation, die beschissene. Ich fahre übermorgen heim, wollte ich dir noch sagen.«
»Ja, ja, immer das Wetter! Aber danke für deine gutgemeinten Worte.«

Tag 400
Robert gibt in der Therapiesitzung gegenüber der Gruppe sein tägliches Blitzlicht.
Zu dem Bericht seiner Sitznachbarin über ihren Selbstmordversuch vor der Einweisung in die Klinik sagt er: »Ich habe auch manchmal über Selbstmord nachgedacht, aber keine konkreten Absichten gefasst. Gott sei Dank – wem sonst? – habe ich bisher noch nicht einmal einen Versuch unternommen. Allein meinem Glaube an Jesus Christus ist das zu verdanken!« Der Therapeut nickt zustimmend.
Robert fährt fort: »Selbstmord begehen würde bedeuten, Gott das schönste Geschenk, das er Einem gegeben hat, ins Gesicht zu werfen. Manchmal sah ich mich schon am Strick von der Decke baumeln, mit einem großen Schild um den Hals auf dem steht: ›Nur Geduld, alles braucht seine Zeit, wird schon wieder werden‹. Der Therapeut schüttelt betroffen den Kopf, will offensichtlich etwas einwerfen, hört aber dann doch weiter zu.
»Sicher, Seelenkrebs bessert sich meist irgendwann, vorausgesetzt man überlebt ihn. Aber auch bei bekehrten, wiedergeborenen, Christen gibt es Selbstmorde.«
»Ja ,da stimme ich Ihnen zu, Herr Winterkorn. Ihre Stärke, mit der Erkrankung umzugehen, verdient Anerkennung!«

Tag 668
Das neue Jahr beginnt mit neuen Versuchen im Institut für Psychiatrie in Ulm, wo Robert immer noch stationär untergebracht ist. Er hatte lediglich ein paar Unterbrechungen als »Heimschläfer«. Bisher hat keine Therapie angeschlagen. Daher wollen es die Ärzte mit einer Elektrokrampftherapie versuchen, die von Nichtmedizinern oft Elektroschock genannt wird. Vor seiner ersten EKT wird Robert über die Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt. Ihm wird erzählt, dass ein Patient einmal eine Reihe von 48 EKTs bekam, aber es habe sich nichts getan. Doch wie durch ein Wunder sei dessen Seelenkrebs bei der letzten EKT wie weggeblasen worden. Der Mann wisse zwar nicht mehr, wie er ins Krankenhaus gekommen sei und warum. Ihm würden einfach ein paar Wochen fehlen. Das würde aber wieder werden, haben ihm die Ärzte versichert und tatsächlich sei nach und nach seine Erinnerung wieder aufgetaucht. Bei Robert sind erstmal 12 dieser EKTs vorgesehen. Die EKT soll morgen erstmals durchgeführt werden. Deshalb ist Robert bereits einen Tag vorher bei einer Besprechung mit dem Anästhesisten. Das Wochenende verbrachte er bei seinen Eltern. Sein Vater fährt ihn am frühen Morgen in die Klinik und wartet mit ihm auf den »Zauberdoktor des künstlichen Schlafes«, wie Robert den Anästhesisten nennt. Zum verabredeten Termin erscheint dieser jedoch nicht. Eine Stunde vergeht, dann zwei Stunden und keiner kommt. Robert teilt seinem Vater mit, dass er langsam ungeduldig sei. Doch der meint, es sei besser zu warten. Nach fast acht Stunden kommt der Arzt endlich. Wäre er nicht mehr erschienen, hätte die EKT am nächsten Tag nicht beginnen können. Sie besprechen sich hinsichtlich der Narkose, der Arzt erklärt Robert alles und füllt seine Fragebögen aus.

Tag 916
Robert hat nach den Halluzinationen nun Albträume von Dämonen und vom Teufel, die ihn heimsuchen. Er wacht auf und schlägt seine Bibel auf.
Auf der aufgeschlagenen Seite liest er laut die Worte von Paulus: »Ich will aber nicht, dass ihr Gemeinschaft habt mit den Dämonen. Ihr könnt nicht des Herrn Kelch trinken und der Dämonen Kelch.«
Dann liest er weiter: »Ihr könnt nicht am Tisch des Herrn teilnehmen und am Tisch der Dämonen.«
Robert äußert seinem Seelsorger gegenüber die Angst, dass man ihm seine Medikamente wegnimmt. Der Heilungsdienst hat bei ihm noch keine Wirkung gezeigt. Er endet heute wieder mit der Handauflegung und den Worten: »Christus hat unsere Krankheit getragen.« Dann wird Jesaja, Vers 53,4 zitiert: »Jedoch unsere Leiden, er hat sie getragen, und unsere Schmerzen, er hat sie auf sich geladen.«

Tag 1382
Zum Familien-Weihnachtsessen beim Griechen überbringt Robert auch seiner Familie die freudige Botschaft. Nachdem alle an der Festtafel Platz genommen haben, steht er auf und klopft an sein Glas.
»Liebe Leute, ich will euch heute etwas sagen. Ich mach’s kurz, keine Angst: Susanne und ich heiraten an meinem 31. Geburtstag …« Alle klatschen begeistert Beifall.

Tag 2134
Nach drei mehr oder weniger schlaflosen Jahren schreibt Robert heute den letzten Satz aus der Bibel in seinen Notizblock. Er hat nun die komplette Bibel mit der Hand abgeschrieben. Endlich findet er auch wieder etwas mehr Schlaf.

Tag 2854
Robert hadert mit einigen Gemeindemitgliedern der charismatischen Freikirche und spricht Susanne darauf an.
»Du Schatz, ich weiß nicht, ob ich heute mit zum Gottesdienst gehe. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch mitgehe.«
»Wieso, was ist los?«
»Einige Gemeindemitglieder zweifeln an meinem festen Glauben, da ihr Beten auch nach Jahren keine Besserung gebracht habe. Ich fühle mich fallen gelassen!«
»Ja, es gibt immer welche, die sagen, du glaubst noch zu wenig. Aber wir wissen doch, dass das nicht stimmt. Es ist eine Prüfung und wir müssen halt noch Geduld haben.«
»Geduld, Geduld! Die haben keine Ahnung, wie es mir geht und ich werde erstmal nicht mehr mitgehen, Punkt!«
»Also ich habe da wenig Verständnis für.«
»Ok, wie du meinst, dann fahr ich halt alleine. Bis heut Nachmittag dann!«

Tag 4036
Robert hat wieder mal eine schlaflose Phase. Seine Frau kann auch nicht schlafen. Er meint, er überlege wie er die schlaflose Zeit sinnvoll einsetzen könne. Die Bibel habe er schon einmal komplett abgeschrieben, und sein tägliches Bibelstudium mache er auch noch nebenbei. Eine Stunde später schreit er auf und weckt damit seine gerade eingeschlafene Frau.
»Was ist los, Schatz?«
»Ich hab eine zündende Idee. Ich bin doch seit langem Uhrensammler, speziell von Armbanduhren und hab bereits an die 800 Uhren, davon etwa 600 Armbanduhren und 200 Taschenuhren.«
»Und dafür weckst du mich, um mir das zu sagen?«, gähnt Susanne. Robert berichtet ihr von seiner Idee, eine »Prominenten-Uhrensammlung« aufzubauen und den Erlös einmal zur Hälfte für einen sozialen Zweck zu spenden oder eine Ausstellung zu machen. Sie findet die Idee gut. Er könne es ja mal versuchen, sagt er. Vielleicht lassen sich die Uhren später einmal versteigern, um den Erlös daraus an eine karitative Einrichtung zu spenden. Mittlerweile hat er selbst so viele Uhren erworben, dass er fast drei Jahre lang jeden Tag eine andere aus seiner Sammlung tragen könnte. So schreibt er zögerlich an eine kleine Gruppe von Prominenten. Verlieren kann er ja nichts.

Tag 5438
Robert bringt seine Gedanken zu Papier und zieht ein Resümee seines Zustands in den letzten Jahren. Er schreibt: »Es gibt keine spezielle Sprache, die einen Seelenkrebs und seine Symptome erklären könnte. Deshalb wird von einem Betroffenen immer die Vergleichssprache ›so als ob‹, oder ›es ist wie …‹, zur Beschreibung der Symptome verwendet. Oftmals kann jedoch auch mit dieser Vergleichssprache das Leid, welches subjektiv vom Betroffenen empfunden wird, gemessen an den tatsächlich gefühlten Symptomen nicht annähernd ausreichend beschrieben werden. Oftmals lässt die Dauer und Beständigkeit sowohl den Betroffenen, als auch die Angehörigen, Freunde und Kollegen verzweifeln. Je länger der Seelenkrebs dauert, um so mehr verabschiedet sich das soziale Umfeld. Weder der Kranke, noch sein Umfeld können mit der Dauer und Intensität dieser Krankheit umgehen, da diese Monate, Jahre oder – wie in meinem Fall – Jahrzehnte, ohne eine Besserung dauern können. Der Betroffene aber muss weiter, Sekunde für Sekunde, seinen Seelenkrebs aushalten, was ihn schier zur Verzweiflung, oder nicht selten sogar in den Suizid, treiben kann. Ein Mensch muss schon sehr verzweifelt sein, um den Freitod zu wählen. Aussagen von Außenstehenden wie, ›Jetzt reiß dich doch mal zusammen, morgen sieht die Welt schon wieder anders aus‹, ›Du musst nur rausgehen und Sport machen, dann wird es dir schon wieder besser gehen.‹ usw., usw., usw., helfen gar nichts. Der Kranke gibt sich alle Mühe, kann aber die Anforderungen, die an ihn durch unsere Gesellschaft gestellt werden, nicht mehr erfüllen. Jetzt ist der Seelenkrebskranke in einer Zwickmühle, mit der er oftmals nicht richtig umgehen kann. Er versucht eine Sache zu machen, schafft es aber nicht und bekommt nur wieder blöde Sprüche zu hören, so als ob er an seinem Dilemma selber schuld wäre. Das kann für den Betroffenen sehr qualvoll sein. Er wünscht sich ja nichts sehnlicher, als genau wieder diese Dinge wieder tun zu können: Spazierengehen, die Natur genießen, Sport treiben, usw.. Ja, wieder auf ›eigenen Beinen stehen‹, wenn er den Seelenkrebs überlebt. Man stelle sich den schlimmsten Tag seines Lebens vor und dass er nicht mehr endet, um nur eine entfernte Ahnung von dem unsäglichen Zustand zu bekommen. Würde es einen in dem Zustand interessieren, ob die Sonne scheint oder im Meer versinkt, die Berge majestätisch vor einem emporragen, oder sonstige Naturschönheiten, die so schön von Gesunden empfunden werden können? Nein, man wird kein anderes Interesse mehr haben, solange es dauert, den schlimmsten Tag seines Lebens hinter sich zu bringen. Auch wenn es Jahre dauert, das Interesse wird nur noch dazu dienen. Alles andere wird für einen uninteressant werden, weil die Aufmerksamkeit nur noch diesem einen Ereignis gelten wird, die Gesundheit und alte Form wieder zu erreichen. Man würde erstaunt sein, was man alles an Medikamenten nehmen und was man alles machen würden, um einen sehr schweren, chronifizierten und unbehandelbaren, Seelenkrebs ohne Besserung loszuwerden. Leider ist es heute immer noch so, dass Jemandem, der sich einen Arm oder ein Bein gebrochen hat, die Türe aufgehalten wird. Es gibt nichts Schlechtes daran. Aber einem Seelenkrebskranken werden die Türen auf die Fresse gehauen, weil man nichts von seiner Krankheit sieht und wenn man etwas sieht, dann schaut man besser weg. Es gibt noch sehr viele Baustellen in unserer Gesellschaft, die lernen muss, besser mit solchen Krankheiten umzugehen. Dies wird noch ein sehr langer und steiniger Weg. Ein weiser Spruch der Indianer lautet: ›Urteile nie über einen Menschen, bevor du nicht eine Zeit lang in seinen Mokassins gewandelt bist.‹«

Tag 6291
Robert geht nach über fünfzehn Jahren wieder in eine psychiatrische Einrichtung. Diesmal in die Psychiatrische Klinik und Poliklinik in der Eichenstrasse in Augsburg.

Tag 6511
Robert beendet die Therapien in der Klinik. Nach sieben sehr harten Monaten hat Robert nun den Valiumentzug und die Raucherentwöhnung geschafft. Ansonsten ist der Zustand trotz der Elektrostimulationen seiner Kopfhaut und der EKTs unverändert, im Gegenteil, die EKTs haben ihre Spuren hinterlassen.

Tag 7270
Nach bald zwanzig Jahren wieder ein »neuer« Morgen, sinniert Robert vor sich hin. Wie viele Tage sind es eigentlich? Egal, er will es gar nicht mehr wissen. Seit gestern klagt er wieder einmal über extrem starke Kopfschmerzen und dieses seltsam quälende Summen und Brummen in seinem Schädel, das keine Sekunde aufgehört hat.

Tag 7306

Das Ende ist immer auch der Anfang.
»Sie müssen wissen: mir ist grad eingefallen, dass sich der Freitag, an dem alles begann, heute das zwanzigste Mal jährt. Das ist doch ein seltsamer Zufall, nicht wahr, Herr Elia?« Robert dreht seinen Kopf dem Anästhesisten zu, der sich gerade anschickt, ihn vor dem Eingriff in das Land der Träume zu schicken.
»In der Tat, wenn das mal kein gutes Omen ist. In sechs Wochen haben wir schon wieder Ostern. Die Zeit vergeht.«
»Ja und spätestens sechs Wochen nach der OP, sagten Sie, kann man sehen, ob das Ganze Erfolg hatte, nicht wahr? Das wird wie eine Auferstehung sein. Ich bete jeden Tag dafür, dass alles gut klappt mit dem Eingriff.«
Der Chirurg beugt sich über Robert, zieht das grüne OP-Tuch zurecht, streicht über die grünen Schnittmarkierungen am Hals und beruhigt ihn.
»Wird schon schiefgehen!«