Die Behandlung der Depression – eine Herausforderung für die Hirnforschung
Auszüge eines Vortrags von Prof. Dr. Florian Holsboer vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, gehalten beim Übersee-Club e.V. im Amsinck-Haus, Hamburg, am 22. April 2008
»Viele Menschen neigen dazu, die Krankheit Depression nicht ernst zu nehmen, für eine Modeerscheinung zu halten, auf alle Fälle aber für etwas, das nicht zu einer positiven Weltsicht passt. Dennoch geht die Depression jeden an, sie macht vor niemandem halt. Die Liste berühmter Persönlichkeiten, die unter Depressionen litten, ist lang. Sie umfasst Maler wie Vincent von Gogh, Caspar David Friedrich und Jackson Pollock ebenso wie Schriftsteller, z.B. Ernest Hemingway, Virginia Woolf, Truman Capote und Albert Camus. Die Depression ist aber nicht nur eine Erkrankung der Künstler, auch Industrielle wie Ted Turner, Sportler, z.B. der Fußballstar Sebastian Deisler oder Staatsmänner können an einer Depression erkranken. Winston Churchill hatte seine Depression selbst als ›black eyed dog‹, manchmal nur als ›black dog‹ bezeichnet und beschrieben, wie er es vermied, in Zeiten, in denen sich diese depressiven Zustände seiner bemächtigten, nahe an Bahngleisen zu stehen, weil er Angst davor hatte, sich in einem Impuls das Leben zu nehmen. Tatsächlich wissen wir von der Depression berühmter Persönlichkeiten vor allem, weil sie sich selbst das Leben genommen haben. Dies trifft für Hemingway, Virginia Woolf und van Gogh, aber auch für viele andere zu. Depression ist eine potentiell tödliche Krankheit, jedes Jahr begehen, offiziellen Zahlen zufolge, weltweit über 1 Million Menschen Suizid. Wir müssen aber davon ausgehen, dass in Wahrheit die Zahl der Selbsttötungen mindestens doppelt so hoch ist. Die Vertuschung dieser Todesart erscheint aus vielen Gründen opportun, oft auch, weil in den meisten Ländern der Suizid die Auszahlung einer Lebensversicherung ausschließt. Auch heute noch werden offizielle Statistiken bezüglich der Todesursache manipuliert. Ein besonders wichtiger Grund, der hierzu verleitet, ist das Stigma, das der Depression und dem Suizid anhaftet.
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Während im Jahr 2007 laut Statistik der Krankenstand gegenüber den Vorjahren deutlich abgenommen hat, stiegen als einzige Gruppe die psychischen Erkrankungen, und hier wieder vor allem die Depression. Ob wir hieraus schließen dürfen, die Depression nähme in Industrienationen generell zu, muss vorläufig offen bleiben. Natürlich sind sozialkritisch eingestellte Interpreten schnell dabei, Erklärungen zu liefern. Der große Stress, dem der Einzelne in einer leistungsorientierten Gesellschaft ausgesetzt ist, sei schuld. Diese und ähnliche Ursachendeutungen vermag ich nicht zu akzeptieren. Ich sehe nicht, wo gegenüber früheren Sozial- und Arbeitswelten heute depressionsfördernde Verschlechterungen der Situation gefährdeter Menschen entstanden sein sollten. Die meisten Menschen sind gut abgesichert, haben reichlich Urlaub, um sich von der 40 Stunden-Woche zu erholen. Wer es geschickt anstellt, kann kurz nach Überschreiten des 60. Lebensjahrs in Rente gehen. Tatsächlich weisen die Häufigkeitsstatistiken für Depression weltweit keine regionalspezifischen Besonderheiten und auch keinen Zusammenhang mit dem jeweiligen Sozialsystem auf. Die Depression ist auch keine Erkrankung, die in sozial schlechter gestellten Schichten oder besonderen Berufsgruppen vermehrt auftritt.
Meiner Meinung nach liegen die tatsächlichen Gründe für die vermeintliche Zunahme der Depression in der öffentlichen Diskussion. Wir sind heute gegenüber psychischen Erkrankungen viel aufgeschlossener, man redet darüber. Außerdem ist es längst nicht mehr anrüchig, einen Psychiater, früher sagte man bezeichnenderweise noch ›Irrenarzt‹, aufzusuchen.
Darüber hinaus liefert die Art und Weise der epidemiologischen Erhebungen reichliche Begründung für die scheinbare Zunahme der Depression. Die Diagnose stützt sich einzig auf mündliche Berichte der Patienten. Jeder Befragte äußert seine lang anhaltende Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, traurige Stimmung, mangelndes Selbstvertrauen, fehlenden Antrieb, seine Unfähigkeit, sich über etwas zu freuen, seine Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und die schlechte Schlafqualität. Sein ganzes Denken scheint auf die Depressivität eingeengt zu sein. Oft bestehen Lebensüberdruss, Gedanken an den Tod und Pläne, sich das Leben nehmen zu wollen. Man hat nun diese durchaus subjektiven Stimmungsqualitäten und lediglich auf Eigenbeobachtungen gestützte Aussagen, wie wir sie von Depressiven kennen, durch strukturierte Interviews zu objektivieren versucht. Dies ist aber nur insofern gelungen, als hinsichtlich der Symptome und ihrer Ausprägung verschiedene Patienten miteinander verglichen werden können, auch wenn sie an verschiedenen Orten von unterschiedlichen Untersuchern befragt wurden. Dies ist tatsächlich ein großer Fortschritt, vor allem für die Erforschung der Wirksamkeit von Therapieverfahren. Wir können heute bei den an verschiedenen Zentren durchgeführten Therapiestudien davon ausgehen, dass die in die Untersuchung aufgenommenen Patienten hinsichtlich der Symptome, die das Krankheitsbild prägen, gut vergleichbar sind. Dieser Fortschritt bedeutet zwar, dass sich die vorgegebenen Diagnosekriterien erfüllen. Er bedeutet aber nicht, dass bei allen Patienten mit der gleichen Diagnose auch die gleichen Krankheitsmechanismen zugrundeliegen. Mit anderen Worten, bei einer diagnostisch einheitlichen Gruppe depressiver Patienten kann eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Mechanismen zur Krankheit geführt haben.
Damit kommen wir zum eigentlichen Problem, wann ist eine depressive Stimmung der individuellen Lebenssituation angemessen und wann beginnt die Depressivität, eine Krankheit zu sein. Der noch in der Antike als Sanguiniker bezeichnete schwungvolle, leichtlebige, immer optimistische Mensch wird sich, sollte er an einer Depression erkranken, gar nicht so sehr von dem Melancholiker unterscheiden. Dieser hat eine eher schwermütige Wesensart, ist ängstlich, in sich gekehrt und neigt zu Pessimismus. Der ursprünglich ›sanguinische‹ Mensch ist also, wenn er sich so verändert, dass er dem an sich gesunden Menschen mit einem melancholischen Temperament gleicht, psychisch krank. Durch strukturierte Interviews sind beide in der Momentaufnahme der Untersuchung gleich. Der Depression des einen liegt natürlich eine ganz andere Krankheitsursache zugrunde als dem melancholischen Temperament des anderen. Wir haben also in unserem Fach keine objektiven Kriterien, ob hier eine Krankheit vorliegt oder nicht. Wir können keine Röntgenaufnahmen, kein Elektrokardiogramm oder Blutwerte zu Hilfe nehmen, um die Depression durch Messungen zu belegen.
Wenn ich in meinen Ausführungen von Depression spreche, dann meine ich ganz dezidiert die schwere Depression, die ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellt und unbedingt medizinisch behandelt werden muss. Selbst wenn man sehr konservative Kriterien heranzieht, ist die Wahrscheinlichkeit jedes Einzelnen unter uns, im Leben an einer Depression zu erkranken, etwas über 10 %. Die Konsequenzen sind nicht nur das große Leid der Betroffenen, sondern sie sind auch ökonomisch gravierend. Im Jahr 2030 wird die Depression die wichtigste volkswirtschaftliche Belastung für Industrienationen sein, und über 1% des Bruttosozialprodukts an Kosten erzeugen. Bereits heute gibt jeder der 466 Millionen Europäer im Jahr durchschnittlich 254 Euro für Menschen mit Depression aus. In Deutschland ist die Zahl 470 Euro und damit die höchste in Europa. Dies erklärt sich aus der Leichtigkeit in unserem Lande, aus Krankheitsgründen vorzeitig berentet werden zu können.
Die Depression ist aber nicht nur wegen des Suizidrisikos und der krankheitsökonomischen Konsequenzen eine außerordentliche Belastung für die Gesellschaft. Die Depression ist auch ein Wegbereiter für eine Vielzahl anderer bedrohlicher Leiden. So verdoppelt eine Depression in der Lebensmitte, das Risiko, im Alter die Parkinson´sche Erkrankung zu bekommen oder eine Demenz, wie sie der bayerische Psychiater Alois Alzheimer als Erster beschrieben hat. Auch Depression und Diabetes beeinflussen sich gegenseitig. So ist die Wirkung des Hormons Insulin, dessen Produktion bei Zuckerkranken vermindert ist, bei Patienten mit Depression abgeschwächt. Auch die Entstehung von Herzkreislauferkrankungen wird durch die Depression begünstigt. Besteht neben einer Herzinsuffizienz auch eine Depression, so ist das Risiko für einen Herzinfarkt zweifach erhöht. Nach einem Herzinfarkt kann es besonders leicht zu einer schweren Depression kommen. Diejenigen Infarktpatienten, bei denen die Depression unbehandelt bleibt, haben ein 3,7fach größeres Risiko, innerhalb eines halben Jahres einen weiteren Herzinfarkt zu erleiden. Die Depression ist also nicht etwas, das man aushalten muss, etwas, ›das schon wieder vergeht‹, sondern ein ernstzunehmender Risikofaktor für unsere Gesundheit. Die Depression nicht zu behandeln ist genauso unklug wie hohen Blutdruck oder erhöhte Blutfette und Zuckerwerte sich selbst zu überlassen.
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Trotz der vorliegenden Evidenz für klinische Effekte der Antidepressiva können wir keinesfalls zufrieden sein. Diese Medikamente wirken immer noch bei zu wenigen Patienten, es dauert zu lange, bis sie wirken und sie haben zu viele Nebenwirkungen. Letztere beziehen sich vor allem auf innere Unruhe, Veränderungen des Appetits, oft verbunden mit Gewichtszunahme, zu Verdauungsstörungen, selten auch zu Erektionsschwäche. Früher war die Liste der Nebenwirkungen noch länger, es ist bei den Neuentwicklungen einiges verbessert, vor allem kann man sich mit den heute am weitesten verbreiteten Antidepressiva, wenn man sie in Überdosierung einnimmt, nicht mehr vergiften.
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Trotz der unvorstellbaren Komplexität ist unser Wissen über die pharmakologischen Effekte, die Antidepressiva in unserem Gehirn auslösen, über Jahrzehnte intensiver Forschung respektabel gewachsen. Der heute immer noch wichtigste Mechanismus der Antidepressiva besteht darin, dass sie die Wirkung der Botenstoffe verstärken, durch die Signale zwischen Nervenzellen weitergeleitet werden. Dies müssen Sie sich folgendermaßen vorstellen: Wird der Botenstoff von einer Nervenendigung freigesetzt, dann befindet er sich im zuvor beschriebenen synaptischen Spalt. Hier hat der Botenstoff nun zwei Möglichkeiten. Entweder er durchquert die 10 Nanometer des Spalts und dockt an der benachbarten Zellmembran an, oder er bewegt sich in die Nervenzelle zurück, aus der er gekommen ist. Letzterer Vorgang würde die Signalweiterleitung abschwächen. Hier greifen nun die Antidepressiva ein, indem sie die Wiederaufnahme des Botenstoffs in die Nervenzelle, aus der er freigesetzt wurde, verhindern. Daher stammt auch der Name dieser Medikamente: ein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, wie z.B. das bekannte Prozac, blockiert die Wiederaufnahme des freigesetzten Serotonins in die Nervenzelle, aus der es stammt. Dadurch wird dessen Wirkung an der benachbarten Nervenzelle verstärkt und im weiteren Verlauf breitet sich dieser Mechanismus mit steigender Intensität über das gesamte Gehirn aus. Ein großes Fragezeichen bleibt aber: Diese Blockierung der Wiederaufnahme eines Botenstoffs erfolgt innerhalb von Minuten bis Stunden und wir müssen uns fragen, weshalb wir dann Wochen und Monate warten müssen, bis die klinische Wirkung einsetzt. Die Antwort kann nur lauten, dass wir mit dem beschriebenen Mechanismus einen Prozess innerhalb und zwischen Nervenzellen angestoßen haben, der gleich einem riesigen Dominospiel eine Kaskade komplexer biochemischer und molekularbiologischer Vorgänge nach sich zieht, an deren Ende dann die klinische Wirkung steht. Wir haben entdeckt, dass sowohl die Optimierung der Stressadaptation, aber auch die Entstehung neuer Nervenzellen in einigen Hirnregionen Effekte von Antidepressiva sind, die man erst nach einigen Wochen beobachten kann. Es wäre nun zu wünschen, über Antidepressiva verfügen zu können, die diesen Weg abkürzen, um so einen schnelleren Wirkungseintritt zu ermöglichen. Leider gibt es diese Medikamente noch nicht und nach wie vor basieren alle neuen Antidepressiva auf dem Prinzip der erläuterten Wiederaufnahmehemmung von Botenstoffen, wie etwa dem Serotonin.
Sie werden sich fragen, was denn die Hemmnisse für Innovation in der Antidepressivaforschung sein mögen. Sicher ist es gerecht zu sagen, dass die außerordentliche Komplexität von Hirnfunktionsabläufen die Entdeckerreise sehr beschwerlich macht. Es gibt aber einen weiteren Grund, und der klingt zunächst paradox: Der große wirtschaftliche Erfolg der Antidepressiva ist eine Innovationsbremse. Im Jahr 2005 war der Gesamtumsatz von Antidepressiva etwa 20 Milliarden Euro weltweit. Warum sollte die Pharmaindustrie bei einer so erfolgreichen Substanzklasse die ›Pferde wechseln‹ und das Risiko einer innovativen Neuentwicklung eingehen? Tatsächlich scheint aus wirtschaftlicher Sicht das Konzept, ›Blockbuster‹ auf den Markt bringen zu wollen, vernünftig zu sein. Einem Unternehmen, das zeigen kann, dass sein Medikament im Vergleich zu Produkten der Konkurrenz bei einer großen Patientenzahl ein paar Prozent besser wirkt und etwas weniger Nebenwirkungen besitzt, wird ein großer finanzieller Erfolg beschieden sein. Ein paar Prozent besser heißt aber, bei etwas mehr als zwei Drittel der behandelten Patienten. Was aber geschieht mit dem anderen Drittel, das eben nicht durch den ›Blockbuster‹ geheilt werden kann? Auf diese Patientengruppe, die ja Gefahr läuft, chronisch zu erkranken und in Folge auch für andere Leiden ein erhöhtes Risiko zu entwickeln, werden beide, Pharmaunternehmen und akademische Forschung, in Zukunft besonders achten müssen. Dies auch deshalb, weil die heute noch gebräuchlichen ›Blockbuster‹ in den nächsten Jahren ihren Patentschutz verlieren werden und keine grundlegenden Neuerungen mit ›Blockbuster‹-Potential in Sicht sind.
Die zukünftige Entwicklung wird sich daher in eine Richtung bewegen, für die ich mich seit bald 10 Jahren einsetze, nämlich die ›personalisierte Depressionstherapie‹. Damit meine ich, dass für jeden einzelnen Patienten die höchst individuellen Mechanismen, die zu seiner Erkrankung geführt haben, verstanden werden müssen. All diejenigen Patienten, die sich in den Kausalmechanismen ihrer Depression ähneln, werden in Gruppen zusammengefasst und für jede dieser Gruppen werden spezifische Antidepressiva entwickelt. Hier waren verständlicherweise einige Widerstände zu überwinden. Auf Seiten der Pharmaindustrie war der Gedanke, einen so lukrativen Markt wie den der Antidepressiva zu fragmentieren, nicht willkommen. Noch heute versucht man, unbefriedigende Wirkeffekte durch exzessives Marketing zu kompensieren. So gibt die Firma Pfizer für die Marktunterstützung eines nicht unproblematischen Medikaments gegen Rheumatismus in den USA mehr Geld aus als die Firma Budweiser für alle ihre Biersorten. Dies wird nicht mehr lange gut gehen.
Jeder einzelne Mensch ist in seiner gesamten Komplexität einzigartig, ein Individuum eben. Dies gilt auch im Krankheitsfalle, weshalb ich davon überzeugt bin, dass die nächste große Veränderung in der Therapie der Depression, aber auch anderer komplexer Erkrankungen, die Abkehr einer Sichtweise sein wird, wonach die Krankheit als kollektive Normabweichung verstanden wird. Mittlerweile wird die personalisierte Medizin auch in Strategieüberlegungen der Pharmaindustrie einbezogen und nachdem ich lange dafür gekämpft habe, wird auch die Europäische Union entsprechende Forschungsförderprogramme auflegen.
Ich will Ihnen an einigen Beispielen erläutern, was unter personalisierter Depressionstherapie zu verstehen ist: Wie Sie wissen, hält der Mensch eine ganze Menge aus. Dies trifft auch für extreme Stressbelastungen zu. Bei einigen Menschen jedoch kann durch fortdauernden Stress tatsächlich eine Depression ausgelöst werden. Wir vermuten aber, dass dies nur für diejenigen Menschen zutrifft, bei denen eine genetische Disposition für diese Erkrankung vorliegt. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, nur so viel: Die Verarbeitung einer emotionalen Stressbelastung wird durch eine Vielfalt von Stresshormonen orchestriert. Das bekannteste dieser Hormone ist das Cortisol, das in Drüsen der Nebennierenrinde entsteht und bei Patienten mit Depression im Übermaß produziert wird. Die Kontrolle dieses Stresshormons erfolgt durch das Gehirn, in dem ja die Anpassung an die bedrohliche Situation organisiert werden muss. Hier spielt ein aus 41 Aminosäuren zusammengesetztes Eiweißmolekül, CRH genannt, eine Schlüsselrolle. Wir konnten zeigen, dass dieses Hormon des Gehirns ebenso wie das Cortisol im Blut bei Patienten mit Depression erhöht ist. Nun interessierte uns, ob dieses CRH auch noch andere Effekte auslöst als die Cortisolantwort bei Stressbelastung zu steuern. Dies kann man erforschen, indem man durch winzige Injektionsnadeln CRH in das Gehirn von Ratten oder Mäusen injiziert. Elegant ist dies natürlich nicht, man weiß ja nicht, wieviel gegeben werden soll und auch nicht, in welches Hirnareal die Injektion erfolgen muss. Wir haben daher einen gentechnologischen Weg gewählt. CRH ist ein Eiweißmolekül des Gehirns, oder, wie wir sagen, ein Neuropeptid, dessen Struktur, wie bei allen Eiweißen, in unserer Erbsubstanz der DNA, kodiert ist. Den genetischen Kode für CRH haben wir genutzt und ein überzähliges CRH-Gen in die Erbsubstanz einer Maus eingeschleust. Hierdurch ist eine Maus entstanden, die ausschließlich im Gehirn unter Stressbelastung viel mehr CRH produziert als eine normale Maus.
Nun mögen Sie sich zu Recht wundern, wie und weshalb wir die Depression bei einer Maus erforschen wollen oder generell, ob Mäuse überhaupt eine Depression haben können. Darauf kann ich keine Antwort geben. Aber ich hatte Ihnen ja erläutert, dass psychiatrische Diagnosen etwas Künstliches, von Menschen ohne Kenntnis zu Grunde liegender biologischer Ursachen Geschaffenes sind. Auch sind die Beschwerden, unter denen ein Patient leidet, seine Symptome und nicht die Diagnose. Wie ist es also um unsere CRH-überproduzierende Maus hinsichtlich depressions-typischer Symptome bestellt? Hier kam uns entgegen, dass wir uns sehr genaue Kenntnis über die elektrophysiologische Schlafstruktur depressiver Patienten erarbeitet hatten. Während wir schlafen, entsteht in unserem Gehirn ein charakteristisches Muster elektrischer Aktivität, das wir an der Schädeloberfläche mit Hilfe von Elektroden messen können. Einige von Ihnen haben bestimmt schon eine elektrophysiologische Untersuchung, das EEG, über sich ergehen lassen. So ähnlich mit Elektroden und Leitungsdrähten verkabelt untersuchen wir die Hirnstromkurven im Schlaf unserer Patienten. Dabei fanden wir sehr charakteristische Veränderungen, die typisch für unsere depressiven Patienten waren. Wir haben nun bei unseren Mäusen mit Hilfe einer japanischen Mitarbeiterin das Kunststück fertig gebracht, das Schlaf-EEG zu messen. Im Fall der CRH-überproduzierenden Maus beobachteten wir, dass diese ganz ähnliche EEG-Veränderungen zeigt wie Patienten mit Depression. Und weiter, wenn man durch ein Pharmakon die Wirkung von CRH im Gehirn an den Andockstellen für CRH blockiert, dann waren die Schlaf-EEG-Veränderungen nicht mehr zu sehen. Wir haben nun dieses neue pharmakologische Wirkprinzip, die Blockade von CRH an seinen Andockstellen, bei Patienten mit Depression angewandt und gefunden, dass bei unseren sehr kranken Patienten, die stationär behandelt werden müssen, dieses Medikament ebenfalls gut wirkt. Sicher werden die CRH-Wirkung im Gehirn unterdrückende Antidepressiva nicht bei allen Patienten mit Depression wirken, sondern nur bei einer Untergruppe, eben denjenigen, die im Gehirn CRH überproduzieren. Wie diese Gruppe zu identifizieren ist, wird Gegenstand künftiger klinischer Forschung sein. Ein erster Schritt in Richtung personalisierter Depressionstherapie war damit getan.
Auf dem Wege zur personalisierten Medizin geht die Hirnforschung noch einen anderen Weg, in dem sie direkt die Erbsubstanz analysiert. Diese ist aus Nukleinbasen aufgebaut und befindet sich in eng zusammengeknäulten DNA-Fäden, deren Struktur von Crick und Watson entdeckt wurde. Sie enthält die Information für etwa 25.000 Gene, die aber nur 5% des gesamten Genoms repräsentieren. Die anderen Sequenzen zwischen den Genen dienen der außerordentlich komplexen Genregulation, die nötig ist, um etwa 1 Million, vielleicht aber auch noch viel mehr Eiweiße hervorbringen zu können. Auch wenn alle Menschen die gleichen Gene besitzen, unterscheiden wir uns doch in jedem tausendsten Nukleinbasenpaar. Da das gesamte, sich über 23 Chromosomen erstreckende Genom aus etwa 3 Milliarden Basenpaaren besteht, heißt dies, dass zumindest 3 Millionen Basenpaare von Mensch zu Mensch verschieden sind. Auf diesem Unterschied basiert unsere genetische Individualität, auch das Risiko, zu erkranken. Dieses Risiko ist erblich. Während, wie gesagt, das allgemeine Risiko, an einer schweren Depression zu erkranken, 10% beträgt, ist es doppelt so hoch, wenn auch ein Verwandter ersten Grades betroffen ist. Bei eineiigen Zwillingen ist das Erkrankungsrisiko um 50% erhöht, wenn der andere Zwilling bereits eine Depression hat. Die genetische Disposition wird in Form geringfügiger Veränderungen auf 10-15 verschiedenen Genen, zumeist im Austausch einzelner Nukleinbasen, weitergegeben. Nicht alle Betroffenen haben die gleichen Genvarianten, auch dies ist eine Erklärung für die unterschiedlichen Krankheitsmechanismen, die einer Depression zugrundeliegen können.
Die Art und Weise, wie der Einzelne auf Medikamente reagiert, wird ebenfalls durch Genvarianten bestimmt. Hierzu wieder ein Beispiel aus unserer Depressionsforschung: Das komplizierteste Organ des Menschen, das Gehirn, hat einen großen Bedarf an Energie, es benötigt reichlich Sauerstoff und Glukose, das durch viele kleine Blutgefäße geliefert wird. Damit nicht auch Substanzen in das Gehirn geraten, die dort nicht hingehören, also körperfremd sind, hat die Natur einen Mechanismus entwickelt, mit Hilfe dessen Fremdstoffe immer dann, wenn sie in das Gehirn eindringen wollen, wieder in das Blutgefäß zurück transportiert werden. Man nennt dies die Bluthirnschranke. Für viele Antidepressiva kann diese Bluthirnschranke tatsächlich ein unüberwindliches Hindernis werden. Mit Hilfe von Mäusen, bei denen wir eines der Gene, die für Bluthirnschranke zuständig sind, ausgeschaltet haben, konnten wir feststellen, welche Antidepressiva von der Transportpumpe als Fremdstoff erkannt werden und deren Eintritt in das Gehirn behindert wird. Nachdem wir dies wussten, haben wir diese Transportpumpengene bei unseren Patienten analysiert. Dabei fanden wir, dass einige Patienten in diesen Genen Veränderungen hatten, die zur Schwächung der Transportfunktion führen sollten. Wenn also eine solche Genvariante vorliegt, dann sollte das Antidepressivum leichter in das Gehirn eindringen, auch wenn es eigentlich ein Fremdstoff ist. Die Folge sollte sein, dass diese Patienten, bei denen das Medikament besser in das Gehirn eindringen kann, auch bessere klinische Erfolge zeigen. Diese Hypothese hat sich in einer sehr großen Therapiestudie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie voll bestätigt. Wir konnten anhand einer Variation innerhalb eines für die Bluthirnschranke zuständigen Gens die klinische Wirkung einer bestimmten Antidepressivagruppe voraussagen. Dies ist als erster Beweis zu werten, dass es im Prinzip möglich ist, Patientengruppen, die auf ein bestimmtes Medikament besonders gut oder besonders schlecht reagieren werden, durch einen Gentest zu charakterisieren. Hierdurch hat der Arzt erstmals einen objektiven Labortest zur Verfügung, auf den er seine Therapieentscheidung stützen kann. Ich nehme an, einige unter Ihnen fragen sich nun, ob ich nicht alles zu reduktionistisch mit der Brille des Biochemikers sehe und erfahrungsabhängigen Einflüssen zu wenig Beachtung schenke. Oder, wie es das TIME Magazin vor einigen Jahren auf den Punkt brachte: ›Is Freud dead?‹. Im Gegenteil, ich bewundere, mit welcher Entschiedenheit und Brillanz sich Freud für die Berücksichtigung von Traumata, vor allem solcher, die in der Kindheit erlebt wurden, zum Verständnis der Persönlichkeitsentwicklung eingesetzt hat. Ich halte zwar die Psychoanalyse für die Behandlung einer schweren Depression als Kunstfehler, der Gedanke aber, dass lebensgeschichtliche Ereignisse zu anhaltenden Veränderungen im Befinden und Verhalten führen können, ist aus meiner Sicht richtig. Anders als zur Zeit Freuds sind wir heute jedoch in der Lage, solche, durch äußere Faktoren ausgelösten Wirkungen auf molekularer Ebene zu verstehen: Ich habe Ihnen ja schon einiges über die Funktion der Gene in unserer Erbsubstanz erklärt. Sie wissen nun, dass ein von außen via Botenstoffen an die Zelle gelangendes Signal Gene aktivieren kann, aus denen Eiweißmoleküle entstehen. Das relative Verhältnis dieser Eiweiße zueinander – und wir sprechen hier von über einer Million solcher Moleküle – bestimmt unsere augenblickliche biologische Signatur. Durch ein frühkindliches Trauma beispielsweise, werden kleine organische Moleküle an von der Natur bereits hierfür vorgesehenen Stellen der DNA gebunden. Ja nach Art des Moleküls und Ort der Bindung wird hierdurch die Aktivität, mit der aus Genen Eiweiße entstehen, verändert. Als Konsequenz hat sich die mengenmäßige Gesamtzusammensetzung der Eiweiße durch ein Lebensereignis geändert und auf diesem Wege auch das Befinden und Verhalten in einer speziellen Situation. Solche durch Lebenserfahrungen ausgelösten Veränderungen sind oft bleibend, manchmal bilden sie sich auch wieder zurück. Nicht nur im Kindesalter, auch beim Erwachsenen, kommen solche erfahrungsabhängigen biochemischen Modifikationen des Genoms vor. Solche Veränderungen können sogar vererbt werden. Auch hierzu ein Beispiel aus unserer Forschung: Sie kennen vielleicht den Begriff der posttraumatischen Stresserkrankung. Unter dieser etwas klobigen Krankheitsbezeichnung werden all diejenigen Symptome zusammengefasst, die als Folge eines schweren Unfalls, eines körperlichen Angriffs, aber auch durch die schrecklichen Erfahrungen in Konzentrationslagern oder durch Kriegserlebnisse entstanden sind. Diese Symptome umfassen unwillkürliche und unkontrollierbare, immer wiederkehrende Erinnerungen an das Ereignis, emotionale Gleichgültigkeit, Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen und oft auch Panikattacken. Wir vermuten, dass hier durch die Traumatisierung auf biochemischem Wege Veränderungen auf unserem Genom, das heißt irgendwo auf den 3 Milliarden Basenpaaren, stattgefunden haben. Durch diesen Mechanismus wird die Zusammensetzung der Eiweiße im Gehirn verändert und Sie wissen jetzt auch, dass sich dies auf unser Befinden und Verhalten auswirken kann. Derzeit untersuchen wir, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Mount Sinai School of Medicine in New York, ein großes Kollektiv von Menschen, die sich am 11. September 2001 in der Nähe des World-Trade-Centers befunden haben. Viele von ihnen haben durch die Terrorattacke eine posttraumatische Stresserkrankung erlitten und wir wollen nun herausfinden, welche biochemischen Narben diese Erfahrung auf der Erbsubstanz hinterlassen hat. Biochemische Modifikation des Genoms durch Erfahrung nennt man Epigenetik. Die übliche Genanalyse ist nicht in der Lage, diese epigenetischen Veränderungen aufzuspüren. Deshalb müssen wir zur vollständigen biologischen Charakterisierung von Patienten nicht nur auf die Genetik, sondern auch auf sogenannte Biomarker zugreifen. Diese können Ergebnisse von Eiweißanalysen sein, aber auch von klinischen Hormontests oder durch Auswertung bildgebender Verfahren zugänglich werden.
Das Ziel ist die Kombination aus Biomarkern und Genvarianten zu nutzen, um Voraussagen zu machen, ob der Einzelne ein Risiko trägt, krank zu werden. Wenn wir dies im Voraus wissen können, dann wird die zukünftige Medizin vor allem darin bestehen, den krankmachenden Prozess rechtzeitig zu stoppen und das Auftreten klinisch relevanter Symptome zu verhindern. Unsere subjektiv wahrgenommene Gesundheit ist eigentlich recht robust, und wir nehmen unsere Beschwerden erst lange nachdem der Krankheitsprozess in unserem Körper in Gang gesetzt wurde, zur Kenntnis. Früh einzugreifen, ist das Gebot der Zukunft. Wie Sie wissen, gibt es trotz intensiver Bemühungen kein Medikament, um die Alzheimer’sche Krankheit zu heilen. Es ist einfach zu spät, mit der Behandlung zu beginnen, wenn der Betroffene bereits alles vergisst, dann ist der Krankheitsprozess viel zu weit fortgeschritten, um eine Heilung oder nur einen Stillstand zu erreichen. Hätten wir ein geeignetes Frühwarnsystem, bestehend aus Gentests und Biomarkern, könnten wir mit der Vorbeugung beginnen, lange bevor die ersten Symptome spürbar werden.
Ähnlich ist es mit der Depression, sie ist eine Erkrankung mit hoher Erblichkeit, also eine Vielzahl unterschiedlicher Genvarianten können unser Risiko, depressiv zu werden, erhöhen. Da hier so viele Gene im Spiel sind und deren Aktivität, Eiweiße zu produzieren, von einer großen Zahl über das Leben hinweg angehäufter epigenetischer Veränderungen abhängt, benötigen wir aber auch die bereits erläuterten Biomarker. Mit deren Hilfe sollte es möglich werden, Risiken zu erkennen, bevor die Depression manifest ist und es sollten dann auch entsprechende Therapien angewandt werden, damit es gar nicht erst zur Depression kommen kann.
Biomarker integrieren genetische Information und epigenetische Modifikation, die sich über das Leben hinweg ständig verändert. Biomarker sind flexibel, sie berücksichtigen, dass wir zu keinem Zeitpunkt der gleiche sind wie zuvor oder wie es der griechische Philosoph Heraklit sagen würde: ›Alles ist im Fluss‹.
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Das Ziel, durch personalisierte Depressionstherapie unseren Patienten in Zukunft besser helfen zu können, als dies jetzt noch möglich ist, können wir nur erreichen, wenn alle, akademische Forschung, Industrie und Gesundheitspolitik grundlegend umdenken.«