Mein alter Schulfreund, der in diesem Buch als Protagonist den Namen Robert Winterkorn trägt, berichtete mir vor drei Jahren, dass er noch einige Aufzeichnungen über sein Leben in den letzten zwanzig Jahren habe und auch Einiges erinnere, das er noch aufschreiben wolle. Wir kamen auf die Idee, gemeinsam ein Buch darüber zu schreiben, wie es war und zum Teil auch, wie es sein könnte, das Überleben mit Seelenkrebs. Robert gefiel die Idee und er mobilisierte seine letzten Reserven, das Projekt trotz seines Zustandes erfolgreich abzuschließen. Wir wählten ein gemeinsames Pseudonym, Robert lieferte mir Geschichten, Stichworte, Gedanken, Dialoge und ich montierte all das mit ihm zu diesem Buch. Bei den Schilderungen von tatsächlich so oder so ähnlich stattgefundenen Begebenheiten änderten wir zum Schutz der Persönlichkeitsrechte fast alle Namen sowie die Orte und alles Charakteristische, das möglicherweise Rechte Dritter verletzen könnte. Es sollte schließlich ein Roman werden und keine Biografie. Auch wenn die Einrichtungen der Psychotherapie und ihre Mitarbeiter, wie auch einige Ärzte in diesem Buch sicher oft nicht in einem guten Licht erscheinen mögen, so entspricht dies lediglich der subjektiven und eigenen Erfahrung des Protagonisten, wohlgemerkt zum großen Teil bereits vor über zwanzig Jahren. Es sagt nichts aus über die anerkennenswerten und guten Leistungen der heutigen Ärzte und Einrichtungen. Vor allem soll es niemanden, der Hilfe benötigt, davon abhalten, diese Einrichtungen und Ärzte in Anspruch zu nehmen. In den meisten Fällen ist dies auch durchaus angezeigt und hilfreich. Aus dem Einzelfallschicksal dieses Buches kann sich keine Regel herleiten. Bestenfalls können die Schilderungen dazu beitragen, eine gesunde Kritik gegenüber einem unpersönlichen und schematisiertem Therapiewesen zu wahren. Vieles des Geschriebenen hat sich genauso ereignet, Einiges haben wir hinzugefügt, Robert bleibt authentisch, aber seine Erlebnisse sind teilweise ironisch karikiert. Es sollte kein trauriges Buch werden, schon gar nicht ein Buch zum Trauern, sondern eine Schilderung der menschlichen Unzulänglichkeiten von Beteiligten sowie der Absurdität der Situationen. Dies stets mit einem Augenzwinkern. Aus dieser Sichtweise heraus ist es leichter, die Tragik in den teilweise traumatischen Erfahrungen zu ertragen und Robert wird dies dadurch ermöglicht, dass er seinen Humor trotz der Krankheit nie ganz verloren hat.
Gerade in der letzten Zeit rücken Berichte über seelisch bedingte Schicksale prominenter Stars, wie Robin Williams, Enke, Deisler oder Anna Seidel, auch jüngst des Sängers Hubert Kah, eine vielfach versteckte und manchmal sogar verleugnete Volkskrankheit verstärkt in unser Bewusstsein. Diese Berichte stehen stellvertretend für die Lebensgeschichte Aller, die an einer noch weitgehend unverstandenen seelischen Erkrankung leiden, einer Erkrankung, die sich in körperlichen Qualen und Einschränkungen zeigt.
Robert Winterkorn leidet an einer Form dieser Krankheit, von der wir mehr oder weniger glauben, ein Bild im Kopf zu haben. Es handelt sich um eine Erkrankung, die letztendlich doch keiner wirklich kennt, obwohl sich auch in Roberts Fall allzubald Bezeichnungen und Therapien aus dem Repertoire der Spezialisten dafür fanden. Der bedauernswerte Zustand vermag es zwar nicht, den Körper unmittelbar zu töten, wohl aber zerfrisst er die Psyche, ja die Seele des Menschen, wie ein Geschwür. Immer wieder entledigen sich in diesem Maße zerfressene Seelen des geschundenen Körpers, wie es laut Pressemitteilungen bei dem bekannten Torwart Enke oder der Schauspielerin Anna Seidel der Fall war.
Robert nennt seine Krankheit daher auch »Seelenkrebs«. Trotz der unbeschreiblichen Qualen und zahlreichen körperlichen Einschränkungen in seinen zwanzig »Seelenkrebs-Jahren« hat er für sich einen Weg gefunden – seinen eigenen Weg -, weiterhin zu existieren, um sich und allen Menschen zu beweisen, dass dieses Leben mit einem starken Glauben trotz aller Einschränkungen immer noch überlebenswert sein kann.
Mit der Chronik vom Überleben des Robert Winterkorn haben wir aus 20 Jahren oder 7.306 Tagen des Überlebens 286 Tage mit frustrierenden, spannenden, anrührenden, tragischen, oft aber auch komischen bis skurrilen Eintragungen aus dem Tagebuch der Odyssee zwischen Therapie und Alltag geschildert. Strategien zum Bewahren der Hoffnung werden aus der Not geboren mit der Kraft einer höheren Macht, denn die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Davon ist Robert überzeugt und diese Überzeugung lebt er mit jeder Faser seines geschundenen Körpers.
In Forscherkreisen gilt es mittlerweile als gesichert, dass bei jeder bekannten Form der Depression der Spiegel bestimmter Neurotransmitter entweder zu hoch oder zu niedrig oder die Aufnahme der Synapsen verändert ist. Unklar ist immer noch, ob die physiologische Veränderung von Transmittern und Synapsen eine Ursache oder vielmehr eine Folge der depressiven Erkrankung ist. Gerade, weil es sich bei den geschilderten Symptomen nicht nur und insbesondere nicht ursächlich um Erkrankungen der Psyche, sondern vielmehr um physische, neurobiologische Prozesse handelt, steht der Begriff »Seelenkrebs« insbesondere für den persönlichkeitszerfressenden Aspekt der Erkrankung.
Ob nun geistig oder körperlich, die beispielhaften Erlebnisse von Robert Winterkorn dokumentieren, dass wir erst langsam zu verstehen beginnen, was derartige Erkrankungen auslöst und wie diese gezielter und effektiver behandelbar sind, ohne Betroffene auszugrenzen und zu stigmatisieren. Hier hat sich in den letzten Jahren schon viel getan, doch es liegt noch ein sehr weiter Weg vor uns. Es geht weiter, so wie es selbst nach dem irdischen Leben immer weitergeht, wenn man an die Unsterblichkeit der Seele glaubt. Auch die Geschichte meines Schulfreundes geht weiter, nachdem ihn der Anästhesist am Ende unserer Schilderungen in den Zustand des Nichtwahrnehmens versetzt hat. Roberts Geschichte geht weiter, so wie sie künftig erlebt sowie unsere Autorengemeinschaft sie erdenkt und schriftlich festhält. Ich wünsche meinem Mitautor von ganzem Herzen, dass er die Welt sehr bald wieder in dem Zustand vor seiner Erkrankung erlebt und bis dahin die Kraft findet, seinen Zustand weiter so tapfer zu ertragen.
Roger im 50. Lebensjahr